:Wenn wir dieser Tage auf die Bilder aus Gaza schauen und dann hören, dass das alles am 07. Oktober 2023 begann, dann muss uns klar sein, dass das nicht stimmt. Das das, was Israel seit dem 08. Oktober 2023 tut nur das Ende einer lang existierenden Geschichte von Kolonialisierung, Enteignung und Vertreibung ist. Und dass diese Geschichte in Deutschland nicht frei erzählt wird. Denn: die Bundesrepublik Deutschland steckt im Trauma-Bonding mit dem Staat Israel.
Mir selbst ist erst nach der letzten Podcastfolge wirklich klar geworden, wie krass das Nicht-Wissen ist und wie sehr ich in einer Bubble steckte, was meine Informationen und meinen Austausch zu dem Thema angeht. Direkt vorab. Ich bin bei weitem keine Expertin zu dem Thema. Und gleichzeitig glaube ich, dass es wichtig ist, die geschichtlichen Basics zu diesem Thema zur Sprache zu bringen. Denn anscheinend passiert es noch viel zu selten. Und ja, auch in erkenne an, dass ich damit „very late to the party“ bin. Doch besser spät als nie.
Kolonialisierung Palästinas: Vom Osmanischen Reich bis zum britischen Mandat
Bevor Israel überhaupt gedacht wurde, gab es Palästina. Schon im 12. Jahrhundert v. u. Z., war das Gebiet als Philistäa bekannt. Der Name „Palästina“ selbst, tauchte erstmals um das 5. Jahrhundert v. u. Z. in schriftlichen Aufzeichnungen auf. Die Region ist jedoch schon viel länger bewohnt, denn es gibt Hinweise auf menschliche Besiedlung, die bis vor 10.000 v. Chr. zurückreichen.
Fast forward ins 19. Jahrhundert. Vor dem Ersten Weltkrieg war Palästina Teil des Osmanischen Reiches, geprägt von einer überwiegend arabischen Bevölkerung und einer kleinen jüdischen Minderheit. Mit dem Aufkommen des politischen Zionismus im späten 19. Jahrhundert – einer Ideologie, die die Gründung eines jüdischen Nationalstaats forderte – begann eine gezielte Siedlungsbewegung. Ab 1882 wanderten Tausende Juden, getrieben von Pogromen im Russischen Reich und der Verheißung des Zionismus, nach Palästina ein.
Die Veröffentlichung von Theodor Herzls „Der Judenstaat“ 1896 verlieh dieser Bewegung eine klare ideologische Grundlage. Obwohl zunächst auch andere Orte wie Uganda oder Argentinien diskutiert wurden, setzte sich Palästina als Ziel durch – gestützt auf die religiöse Vorstellung eines göttlich versprochenen Landes.
Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg besetzten die Briten Palästina. Im Rahmen des Sykes-Picot-Abkommens teilten Großbritannien und Frankreich den Nahen Osten unter sich auf. Die Balfour-Deklaration von 1917 versprach den Zionisten eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina – ohne die dort lebende arabische Bevölkerung einzubeziehen.
Unter dem britischen Mandat (1922–1948) wurde die zionistische Einwanderung massiv gefördert. Zwischen 1922 und 1935 stieg der jüdische Bevölkerungsanteil von 9 auf 27 Prozent. Landkäufe führten zur Enteignung zehntausender palästinensischer Pächter:innen. Palästinensische Intellektuelle warnten bereits früh vor den Folgen dieser Entwicklung.
Widerstand, Repression und die Eskalation zur Nakba
Der Arabische Aufstand von 1936 bis 1939 war ein direkter Widerstand gegen britische Kolonialpolitik und zionistische Siedlungsexpansion. Die britische Antwort war brutal: Häuser wurden zerstört, Tausende Palästinenser:innen inhaftiert oder exiliert, mindestens 10 Prozent der männlichen Bevölkerung wurden getötet, verwundet oder gefangen genommen.
Gleichzeitig verstärkte sich die zionistische Militärorganisation. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust nahm der Druck auf die internationale Gemeinschaft zu, einen jüdischen Staat zu ermöglichen. 1947 verabschiedete die UN den Teilungsplan (Resolution 181), der 55 Prozent des Landes der jüdischen Minderheit zusprach, die nur ein Drittel der Bevölkerung stellte und weniger als 6 Prozent des Landes besaß.
Die Ablehnung dieses Plans durch die arabische Seite führte zu einem Krieg, in dem zionistische Milizen wie Haganah, Irgun und Lehi großangelegte Angriffe und ethnische Säuberungen durchführten. Historiker wie Ilan Pappé bezeichnen diese Phase als systematisch geplante Vertreibung, gestützt auf den sogenannten „Plan Dalet“.
Mit der Gründung Israels 1948 begann ein Prozess, der auf der gewaltsamen Vertreibung Hunderttausender Palästinenser:innen basierte, um einen Staat mit jüdischer Mehrheit zu errichten. Zwischen 1947 und 1949 wurden mindestens 750.000 Menschen von einer Bevölkerung von 1,9 Millionen zu Flüchtlingen gemacht. Über 78 Prozent des historischen Palästinas wurden eingenommen, mehr als 530 Städte und Dörfer zerstört, und rund 15.000 Palästinenser:innen fielen Massakern und militärischer Gewalt zum Opfer.
Jedes Jahr am 15. Mai gedenken rund 12,4 Millionen Palästinenser:innen weltweit der Nakba – der „Katastrophe“, die 1948 zur ethnischen Säuberung Palästinas und zur fast vollständigen Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft führte. Die Nakba steht für den gewaltsamen Verlust von Heimat und Land, für Enteignung und Vertreibung – und sie ist bis heute nicht beendet.
Doch es ist wichtig immer wieder deutlich zu sein darin, dass die Nakba nicht erst 1948 begann – und auch nicht dort aufhörte.
Die Nakba als andauernder Prozess
Die Nakba war nicht nur ein Ereignis von 1948, sondern der Beginn einer anhaltenden Enteignung. Sie setzte sich fort:
- 1967: Besetzung von Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza im Sechstagekrieg.
- 1982 & 2006: Militärische Invasionen im Libanon und wiederholte Offensiven in Palästina.
- 1990er Jahre: Die Oslo-Abkommen fragmentierten palästinensische Gebiete und institutionalisierten Kontrollregime.
- Heute: Blockade und wiederholte Bombardierungen Gazas, Ausweitung illegaler Siedlungen und administrative Entrechtung, systematische Aushungerung.
Diese Entwicklung wird von Historiker:innen als „ongoing Nakba“ bezeichnet – ein fortgesetztes koloniales Projekt, das Land, Rechte und Sicherheit systematisch entzieht.
Die Realität heute
Über drei Millionen Palästinenser:innen im Westjordanland und Ostjerusalem lebten unter Besatzung, Siedlergewalt und Militärkontrolle. Ihre Bewegungsfreiheit wird durch Checkpoints und die Trennmauer massiv eingeschränkt. In Gaza sind zwei Millionen Menschen seit über einem Jahrzehnt unter einer Blockade eingeschlossen, abgeschnitten von lebenswichtigen Ressourcen.
Innerhalb Israels ist die palästinensische Minderheit struktureller Diskriminierung ausgesetzt: Rund 50 Gesetze benachteiligen sie explizit. Seit 1948 wurde keine einzige neue palästinensische Stadt gegründet, während über 600 jüdische Gemeinden entstanden.
Für die Palästinenser sind Olivenbäume eine Lebensader, ein Symbol ihrer Liebe zu ihrem Land und eine Quelle des Stolzes; sie sind aber auch ihre Achillesferse, und die israelischen Siedler wissen das. Daher sind Olivenbäume häufig Ziel von Gewalt und Vandalismus, insbesondere während der Olivenerntezeit, wobei israelische Siedler oft als Täter identifiziert werden können. Diese Angriffe umfassen das Fällen, Verbrennen und sonstige Beschädigen der Bäume, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensgrundlage palästinensischer Bauern und die palästinensische Wirtschaft hat.
Heute gibt es fast 8 Millionen palästinensische Flüchtlinge, und das Recht auf Rückkehr bleibt bis heute unerfüllt. Die Nakba ist keine ferne Erinnerung, sondern gelebte Gegenwart.
Zwischen dem 08.10.2023 bis zum 30. 07. 2025 wurden laut Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza und des israelischen Außenministeriums über 60.785 Palästinenser:innen getötet, darunter 217 Journalisten und Medienmitarbeiter, 120 Akademiker und über 224 humanitäre Helfer. Es wird geschätzt, dass 80 % der getöteten Menschen Zivilisten sind. Eine Studie des OHCHR ergab, dass 70 % der Menschen, die in Wohngebäuden oder ähnlichen Unterkünften getötet wurden, Frauen und Kinder waren. Es ist eine gezielte Zerstörung der Zukunft eines Volkes, die wir hier erleben.
Und nun heißt es deutlich werden: es waren Europäer, also wir, die diese Entwicklung und all die Gräueltaten ermöglicht haben. Wir haben den Kolonialismus in die Welt gebracht. Und es waren kolonialisierende Strukturen, strategischen Schweigen, bewusstes Outsourcen von Themen von europäischen Staaten, die dafür verantwortlich sind, dass wir jetzt die bewusste Aushungerung der Bevölkerung in Gaza erleben.
Die Nakba ist nicht nur ein Kapitel der Vergangenheit, sondern eine andauernde Realität, die tief im kolonialen Projekt des Zionismus wurzelt. Wer die aktuelle Lage in Gaza und im Westjordanland verstehen will, muss diese historische Kontinuität sehen – und begreifen, dass der Kampf um Palästina ein Kampf gegen Enteignung, Vertreibung und Unterdrückung ist, der bis heute andauert.
Und wir können uns entscheiden, auf welcher Seite wir stehen wollen. Denn diese Entscheidung beeinflusst auch, wer wir als Gesellschaft in Zukunft sein wollen.
Quellen & weiterführende Links:
- Arab Center DC: The Nakba’s Coming Stages – Patterns, Process and Predictability
- UNRWA Archive: Palestinian Refugee Histories
- Palestine Studies: Plan Dalet and the 1948 War
- Columbia Law Review: Toward Nakba as a Legal Concept
- The Guardian: Against Erasure – Photobook on pre-1948 Palestine
- Encyclopedia of Palestine – General Historical Overview
- Casualties of the Gaza war