“Ich bin nicht ich allein.” Dieser Satz fiel mir zum ersten Mal ein, als ich mal wieder frustriert zuhause saß, weil sich einer der Themen, welches ich in gefühlt unzähligen Coaching-Sessions und energetischen Sittings bearbeitet hatte wieder meldete. Ich war Anfang 30 und konnte gefühlt meine Wohnzimmerwand mit Zertifikaten und Ausbildungsnachweisen füllen. Und dennoch fand ich mich wieder in diesem Moment, in dem es sich anfühlte, als hätte ich versagt. Das jedenfalls war die unterschwellige Botschaft, die meine Ausbilder mir mitgaben – ich würde es nicht genug wollen oder mich nicht genug hingeben.

So saß ich frustriert auf den Holzdielen im Wohnzimmer meiner Hamburger Altbawohnung und schickte ein Stoßgebet an die Putten im Stuck an der Decke. Und dann kam mir der Satz: Ich bin nicht ich allein.” Und auf einmal spürte ich, wie sich in mir etwas bewegte, sich all die aufgestauten Emotionen lösten und mir ein Stöhnen entfuhr, welches sich anhörte und fühlte, als ob es uralt wäre. Ich ließ den Prozess geschehen und flüsterte instinktiv: “Ich spüre dich” und danach “Es ist vorbei”.

Und das war es dann auch. Nach all den vorher gedrehten Runden brauchte ich 30 Minuten auf meinem Wohnzimmerboden mit stöhnen, schütteln und vielen Tränen und auf einmal war dort Frieden und Ruhe. Ohne dass ich es wusste, hatte ich den Grundstein für meinen weiteren Weg gelegt. Ich hatte ein Ahnentrauma erlöst.

Wenn der Ursprung nicht in dir liegt

 

Erst später wurde mir klar: Häufiger als wir denken, ist das, was wir spüren, nicht unseres. Mittlerweile zeigt meine Erfahrung, dass es sogar über 60% der Themen sind, die im Ursprung nicht unsere sind. Es sind die Echos unserer Ahnen. Erinnerungen, die nicht in unserem Kopf, sondern in unseren Zellen wohnen. Gefühle, die nicht von uns stammen, sondern von denen, die vor uns waren.

Heute wissen wir: Erlebtes verändert nicht nur unser Nervensystem – es kann auch epigenetisch weitergegeben werden. Studien zeigen, dass traumatische Erfahrungen (wie Krieg, Gewalt oder Flucht) biochemische „Marker“ hinterlassen, die bestimmen, welche Gene ein- oder ausgeschaltet sind. Diese Veränderungen können an Kinder und Enkel weitervererbt werden – als erhöhte Stressanfälligkeit, Angst, Erstarrung, Überverantwortung oder das Gefühl, „nicht ganz hier“ zu sein.

Studien zeigen: Traumatische Erfahrungen verändern nicht den genetischen Code selbst, wohl aber die biochemische „Schaltzentrale“, die entscheidet, welche Gene an- oder abgeschaltet werden. Diese epigenetischen Markierungen können über Generationen weitergegeben werden – selbst wenn das auslösende Ereignis längst vergangen ist.

So zeigte eine Studie an Überlebenden der Shoah, dass die Kinder und Enkelkinder dieser Menschen erhöhte Stress-Sensitivität und veränderte Hormonprofile aufwiesen – obwohl sie die Traumata selbst nicht erlebt hatten. Ähnliches wurde bei den Nachkommen von Kriegsgefangenen, Geflüchteten oder hungernden Müttern beobachtet.

 

Keine Nostalgie, sondern eine neue Zukunft

 

Für mich ist die Arbeit mit den Ahnen daher ist kein Rückzug in Nostalgie. Sie ist ein Akt der Transformation – auch kulturell. Wir verändern akiv die Vergangenheit und kreieren damit eine neue Zukunft. Und wenn wir beginnen und wieder bewußt mit unserem indigenen europäischen Erbe zu verbinden, müssen wir nicht mehr bei anderen Kulturen suchen. Wir können eine eigene, verkörperte, verwurzelte Spiritualität leben. Eine, die heilt – uns, unsere Linie, unsere Welt.

Ich spreche dabei nicht von Ahnenarbeit als romantischer Rückbesinnung auf vergangene Zeiten. Sondern als klarer, tief transformierender Praxis, die in unsere Gegenwart hineinwirkt. Ahnenarbeit heißt: Ich nehme bewusst Verbindung auf zu meiner Linie – und treffe eine Entscheidung. Welche Muster ich weiterführe. Und welche ich beende.

Es ist ein heiliger Akt von Selbstermächtigung: Nicht weil wir stark sein müssen. Sondern weil wir verbunden sind. Jede:r von uns ist Teil einer Geschichte, die vor unserer Geburt begann. Unsere DNA trägt nicht nur Augenfarbe und Körpergröße, sondern auch Erlebnisse, Ängste, Verluste. Die Forschung nennt das transgenerationale Weitergabe oder epigenetische Prägung. Spirituelle Traditionen nennen es Ahnenlinie. Und egal, wie wir es benennen – es wirkt.

Was weitergegeben wurde, kann gewandelt werden. Wir müssen es nicht weitertragen.

Viele von uns haben spirituelle Wege gesucht – im Außen, in anderen Kulturen, in fernen Traditionen. Und dabei etwas übersehen: Dass auch unsere Wurzeln heilig sind. Auch hier, in Mitteleuropa, gibt es ein tiefes, erdiges Wissen. Ein Wissen um Zyklen, um Würde, um die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, welches lange unterdrückt wurde – durch Christianisierung, Kolonialisierung, Patriarchat – und das nun wieder aufsteigt.

Unsere Ahnen waren unsere ersten spirituellen Begleiter. Vorchristliche Kulturen hielten engen Kontakt mit der unsichtbaren Welt. Sie ehrten die Toten, baten sie um Rat, feierten die Rückkehr der Seelen zur Wintersonnenwende. Viele Bräuche, die wir heute als „Weihnachtsmärchen“ abtun, sind ursprünglich Rituale der Ahnenerinnerung. Die Lebkuchen etwa – einst „Laibe des Lebens“ – waren Gaben an die Toten.

 

Wurzeln rekultivieren, Verbindung erleben

 

Heute haben die meisten von uns nicht gelernt, wie man mit den Ahnen spricht. Es ist, als hätten wir unsere Wurzeln gekappt – kollektiv und individuell. Doch wir können sie wieder beleben. Wir können Verbindung aufbauen. Kraft schöpfen. Klarheit gewinnen. Denn wenn wir unsere Ahnen ehren, ehren wir auch uns selbst. Wenn wir uns zurückverbinden, entsteht eine neue Form von Sicherheit. Nicht weil „alles gut“ wird. Sondern weil wir nicht mehr allein stehen. Nicht umsonst gibt es den Satz:

Gehe, als ob tausende von Ahnen mit dir gehen.

Wenn du das Gefühl hast, dass deine Themen tiefer liegen – dann hast du höchstwahrscheinlich recht. Wenn du manchmal spürst, dass du für etwas leidest, das nicht deins ist – dann vertraue dem.
Und wenn du bereit bist, dich zurückzuverbinden – dann bist du nicht allein.

Ich habe in den letzten 15 Jahren mit vielen Menschen gearbeitet, die tief transformierende Erfahrungen gemacht haben – ohne viele Worte, ohne Drama. Weil sie plötzlich verstanden haben: Ich bin Teil von etwas Größerem. Weil sie nicht mehr kämpfen mussten, um stark zu sein.
Weil sie sich endlich gehalten gefühlt haben – nicht durch andere, sondern durch ihre Linie.

Manchmal braucht es nur einen inneren Satz, um das Feld zu drehen:
„Ich sehe euch. Ich danke euch. Und ich gehe meinen eigenen Weg.“

Denn: Die Ahnen warten nicht darauf, dass wir perfekt sind. Sondern dass wir bereit sind, hinzuhören.