Wir sind am Ende des solaren Jahres angekommen. Am 31.12. versammeln sich Menschen um unzählige Käsefondues und Racelettes, um dann um Mitternacht auf das neue Jahr anzustoßen. Und am 1. Januar beginnt das neue Jahr mit all den teuflisch guten Vorsätzen. 

Wahrscheinlich sieht es aufgrund der pandemischen Situation für viele von uns dieses Jahr etwas anders aus, doch der Druck der guten Vorsätze bleibt irgendwie doch bestehen – mindestens die Idee, dass wir nächstes Jahr definitiv eine Sache anders machen müssen. Veränderung an sich ist ja auch nichts Schlechtes, doch: wenn sie aus dem Gefühl des sich ewig optimieren entsteht, dann ist sie toxisch. Dann versuchen wir aus einem Mangel heraus zu kreieren und das funktioniert meistens eh nicht. Vor allem nicht, wenn unser ganzes System eigentlich im Tiefschlaf ist und wir es mit dem neuerlichen täglichen Joggen oder dem beschlossenen plötzlichen Verzicht auf Nahrung in einen wahrlichen Schockzustand versetzen. (Ja, wenn wir unseren Rhythmus wirklich ehren würden, dann würden wir damit etwas warten, Das ist wie wenn der Bär seinen Winterspeck abtrainiert und sich wundert, warum er vor Ende des Winterschlafs anfängt zu zittern und Hunger zu kriegen)

Anstoßen auf den toten Papst

Bevor wir in die guten Vorsätze eintauchen müssen wir eine Sache ein für alle Mal klären: Silvester ist ein willkürlich gewähltes Datum! Es hat keinerlei spirituelle, mystische oder natürliche Bedeutung. Ursprünglich wurde das Ende des Jahres am 24.12. begangen. Wer sich an den Impuls zum Ursprung der Weihnacht erinnert weiß, dass dies das Datum der Wintersonnenwende war. Wenn also gesagt wird, dass Silvester schon sehr lange gefeiert wird, dann stimmt das so nicht wirklich, Die Menschen feiern jedoch seit Urzeiten den Neubeginn mit der Wintersonnenwende. Im Jahr 335 starb dann der Papst Silvester – am 31.12. Und im Jahr 1582 wurde im Rahmen einer erneuten Kalenderreform dieser Tag zum Ende des Jahres. Somit feiern wir quasi den Todestag eines Papstes… so gesehen schon ziemlich strange und für mich kein Grund anzustoßen.

Und ja, ich verstehe die kulturelle Prägung, doch wenn wir uns einmal kurz klarmachen, dass wir seit noch nicht einmal 440 Jahren diesen Moment begehen und auch erst 1506 das erste Feuerwerk in Deutschland stattfand- und das noch nicht mal zu Silvester – ist es also nicht wirklich altes europäisches Brauchtum.

Loyalität schwören zu den Herrschenden

Was uns nun zu den guten Vorsätzen bringt, die plötzlich auch in einem anderen Licht erscheinen. Denn bevor es Silvester gab, gab es die Wintersonnenwende. Und die wurde gefolgt von den Raunächten. Diese haben allerdings deutlich mehr mit lauschen, sitzen und nichts tun zu tun – sind quasi das Gegenteil der guten Vorsätze. Die guten Vorsätze haben ihren Ursprung eben auch nicht in der indigenen europäischen Weisheit, sondern kommen aus Rom – dem durch und durch patriarchalen Rom. Dort war es so, dass damals die hohen Beamten am ersten Tag im neuen Jahr einen Eid vor dem Kaiser abgelegten, in dem sie Ihre Loyalität gegenüber der Republik öffentlich bekundeten. Dazu gab es selbstverständlich auch eine feine Parade und Demonstration dominierender Macht. Es ging dabei also nicht um den Einzelnen, sondern um die Loyalität dem Herrschenden gegenüber. Und, was jetzt wichtig ist: das römische Jahr begann im März!

Die guten Vorsätze, die uns also als alter Brauch verkauft werden, sind nicht wirklich ein alter Brauch. Im Kern sind sie ein Werkzeug, was komplett gegen unseren Rhythmus geht und aus dem Glauben der ewigen Selbstoptimierung heraus genährt werden. Keine optimale Voraussetzung, wie ich finde. Denn gute Vorsätze zeigen uns immer unsere Fehlbarkeit aus dem alten Jahr auf, unsere Macken und Makel. Die Stellen, an denen wir noch nicht gut genug sind, an denen wir uns bitte noch optimieren, um liebenswerter, erfolgreicher oder oder oder zu werden. Und weil wir versuchen diese mitten im Winterschlaf umzusetzen, scheitern wir auch oftmals so krachend daran. Und fühlen uns dann noch schlechter, weil wir mit all unseren Fehlbarkeiten noch nicht einmal unsere Vorsätze umsetzen – also irgendwie als ein noch schlechterer Mensch ins neue Jahr starten.

Was wäre, wenn du gut bist, so wie du bist?

Mein Vorschlag wäre der folgende: was wäre, wenn du als allererstes mal schaust, ob du nicht einfach so bleiben darfst wie du bist. Dich fragst, was wäre, wenn du nicht jeden Morgen joggen gehst, wenn du kein Kilo abnimmst, wenn du weiterhin an den Fingernägel kaust, wenn du es nicht schaffst immer sofort das dreckige Geschirr abzuspülen…. ich wage zu behaupten, dass du dennoch ein wunderbarer menschlicher Mensch wärst. Dass all diese Dinge nicht über deinen wahren Wert entscheiden.

Denn oft ist es eben so: die Dinge die wir uns vornehmen, sind Dinge von denen uns suggeriert wird, dass wir sie ändern müssten um den gesellschaftlichen Standard zu entsprechen. Um höher, schneller, weiter zu kommen. Um die optimale Version von uns selbst zu werden. Und damit sind sie in meinen Augen toxisch und sehr ungesund und das beste wäre es, sie ganz weit weg zu werfen.

Bedeutet das, dass wir einfach alles so lassen wie bisher? Nein. Die Dinge, die uns stören, die dürfen wir ändern. Weil sie uns stören und uns ein ungutes Gefühl machen. Körperliche Herausforderungen würde ich nicht vor Februar starten, das ist deutlich mehr im Einklang mit der Natur und erfolgsversprechender. Und bei all dem dürfen wir uns immer fragen: wie möchte ich mich fühlen? Denn in den allermeisten Fällen ist der gute Vorsatz nicht der unbedingte Weg zum Ziel. Es gibt auch andere, die sanfter sind und dafür sorgen, dass wir das Gefühl, was beim guten Vorsatz am Ende steht, schon im Hier und Jetzt kreieren können.

Ich habe für mich schon seit langem keine guten Vorsätze mehr. Ich habe glaube ich vor 6 Jahren das letzte Mal auf den toten Papst angestoßen und erlaube mir tief in die Raunächte einzutauchen. Ich stoße am 11.1. an, auf all die Visionen und Intentionen, die ich aus den heiligen Nächten mitgenommen habe. Das ist auch nicht immer einfach. Doch ich glaube fest daran, dass wenn wir uns bewusst von den sinnfreien Narrativen, die uns als Tradition verkauft werden, verabschieden, dann schaffen wir es eben auch, aus der toxischen patriarchalen Struktur auszusteigen. Schritt für Schritt. Für. uns alle und diejenigen, die uns folgen.

In diesem Sinne: genieße die Ruhe der Raunächte und vertraue deinem Ryhthmus.

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