Im Jahr 2016 macht Deutschland mich immer noch sprachlos. Oder besser: fassungslos. Und zwar nicht wegen des großartigen Tors, welches Bastian Schweinsteiger geschossen hat. Sondern wegen all der Fouls, die weiter gegen Frauen ausgeübt werden, ohne dass jemand die rote Karte zieht. Denn während beim Fußball die Spielregeln anscheinend ziemlich klar definiert sind, sind sie es beim Umgang mit Frauen anscheinend nicht wirklich.

Nicht gepfiffene Fouls

Wenn ich zurückblicke erinnere ich mich an den Typen, der mir in der U-Bahn schräg gegenüber saß und sich einen runterholte während er mich anstarrte. Ich war 12. Oder an den Mann, der mir auf der Rolltreppe von hinten an die Brüste fasste. Ich schrie, er kackte mich an, ich solle mich nicht so anstellen, keiner tat etwas im vollen Kaufhaus. Ich war 13. Ich erinnere mich an die älteren Männer, die mir hinterher pfiffen und dabei dreckig lachten. Ich war unsicher, denn ich war gerade dabei eine Frau zu werden. Ich war 14.

Der alltägliche Sexismus in all seinen Facetten ist völlig inakzeptabel. Letzlich ist es ein Ausdruck mangelnder Wertschätzung und damit fehlender Gleichberechtigung der Frau.

Manuela Schwesig

Mein Sportlehrer hat mir und anderen Mitschülerinnen mit größerer Oberweite oft eine Extra-Behandlung zukommen lassen, die ihn sichtbar erfreute. Als ich es meiner Mutter erzählte und die zur Schulleitung ging wurde es banalisiert. Er wurde zwar vom Sport „befreit“, aber ich musste ihm weiterhin jeden Tag begegnen und wurde als die Hysterische dargestellt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er wegen eines ähnlichen Vorfalls schon von einer anderen Schule verwiesen worden war. Meiner Schule war das egal. Anstatt der roten Karte gab es eben nur die gelbe. Ich war 15. Ich erinnere mich an die Jungs, die die volle Tanzfläche nutzen, um Frauen an die Brüste oder unter den Rock zu greifen und dabei auch gerne fester zupackten. Es war nicht viel Raum, um sich zu wehren, laut werden hat bei den Bässen nicht geholfen. Sie lachten. Ich war 16. Ich könnte noch weitermachen, aber es soll nicht um mich gehen. Sondern um den Fakt, dass die angeblichen Spielregeln nicht eingehalten werden und es keinen Schiedsrichter gibt, der die gelbe Karte zeigt. Es geht darum, dass Mädchen und Frauen oftmals noch nicht einmal gefragt werden, sondern einfach benutzt. Und dann kommt beim Alltagssexismus das #neinheisstnein oftmals auch zu spät.

Der misslungene Anpfiff

Jetzt könnte man sagen, dass all diese Ereignisse ja schon einige Zeit zurück liegen. Aber auch der Anpfiff in das Jahr 2016 war mit den unfassbaren Ereignissen in Köln nicht wirklich gelungen. Was mich wirklich entsetzte war nicht die Tat als solches, so schlimm und inakzeptabel sie auch ist. Was mich entsetzte war der fehlende #Aufschrei. In dem Bestreben den Tätern gegenüber „politisch korrekt“ zu sein, ging meines Erachtens der Blick auf die Betroffenen verloren. Denn politisch korrekt wäre gewesen zu sagen: Hände weg! Hände weg von Frauen, die nicht nach euren Händen gefragt haben. Es wäre richtig gewesen ein klares Statement darüber zu treffen, dass Frauen in diesem Land Rechte haben, die Freiheit zu tragen was sie wollen und vor allem niemandem zur Verfügung stehen. Egal ob Mann oder Frau, deutsch oder geflüchtet, Christ, Buddhist oder Moslem. Ich habe mit offenem Mund zugeschaut, wie vorsichtig um das Thema „Wie benennen und behandeln wir die Täter?“ herumgetrippelt wurde anstatt mit der Hand auf den Tisch zu hauen und ein klares Statement für die Frauen in diesem Land anzugeben. Schon wieder wurden die Spielregeln nicht eingehalten.

Trikot-Wahl

Als Krönung stolperte ich dann vor einiger Zeit über ein Facebook-Posting, in dem Frauen darauf hingewiesen wurden besser keinen Pferdeschwanz zu tragen, da dieser es potenziellen Vergewaltigern einfacher mache, sie an den Haaren zu packen und statistisch Frauen mit Pferdeschwanz häufiger vergewaltigt werden würden. Bedeutet das, dass ich mir eine Kurzhaarfrisur zulegen soll, damit Männer mich weniger wahrscheinlich vergewaltigen? Dazu kamen Empfehlungen keine Kleidung zu tragen, die leicht zu entfernen oder mit einer Schere „aufzuschneiden“ ist. Soll ich jetzt ernsthaft mit Mütze, gepolstertem Jumpsuit und schweren Stiefeln durch die Gegend laufen?

Wenn das Recht einer jungen Frau auf Unversehrtheit wirklich ernst genommen würde, gäbe es Selbstverteidigung für Frauen als Schulfach. Statt dessen lernen wir nach wie vor Anpassung.
Luisa Francia

Schon wieder geht die Aufforderung in die falsche Richtung. Denn wie verquer ist die Welt bitteschön, dass ich als Frau Rücksicht auf die möglichen Reaktionen von Männern nehmen muss, die sich und ihren Trieb leider nicht unterdrücken können? Warum wird Männern, die es immer noch nicht verstehen nicht einfach deutlich klargemacht, dass sie ihre dreckigen Futtfinger gefälligst bei sich behalten sollen, denn sonst gibt es die rote Karte. Egal in welchem Trikot die Frau das nicht immer selbst gewählte Spielfeld betritt.

Das Team

Ich kenne so gut wie keine Frau, die nicht schon einmal belästigt, begrapscht, bepöbelt, Opfer von Übergriffen oder vergewaltigt wurde. Und das ist das eigentliche Thema. Dass es offensichtlich keine Null-Toleranzgrenze gibt, sondern eine „Stell- Dich-nicht-so-an“- Kultur. Das wir in einer Gesellschaft aufwachsen, in der uns nicht klar ist, dass das Fehlverhalten einiger Männer genau das ist: ein Fehlverhalten ist, welches geahndet werden müsste – allerdings gibt es keinen Schiedsrichter, der sich dessen annimmt. Aktuell auch am Beispiel Gina-Lisa Lohfink zu beobachten, welcher auf Shehadistan.com auf den Punkt gebracht zusammengefasst wird. In dem Fall wird das Opfer zum Täter, auf Basis eines absurden Strafrechts, welches uralt ist und offensichtlich am Thema vorbei gestaltet wurde. Die Tatsache, dass das Video einer Vergewaltigung, bis zu seiner Entfernung, auf einem Porno-Portal gut bewertet wird, zeigt wie dramatisch die Lage ist.

Frauen werden nicht frei sein, solange ihre Unterwerfung als sexy gilt.
Sheila Jeffreys

Um beim Fußball zu bleiben: da bekommt diejenige, die mit einer Blutgrätsche gefoult wurde quasi die Karte dafür gezeigt, dass sie angeblich eine Schwalbe verübt hätte. Wieder bin ich sprachlos ob fehlender konkreter Handlungen und klarer Aussagen seitens der Menschen, die wirklich etwas ändern können. Ich habe mich während passend zur EM dem #TeamGinaLisa angeschlossen. Und dort ist jeder herzlich willkommen, der für das Einhalten klarer Spielregeln und Fair Play im Spiel zwischen Frau und Mann ist – auch Männer.

Ich kann die Stelle in der Bibel einfach nicht finden, in der Gott der Frau die Gleichberechtigung abspricht.

Sarah Moore Grimké

Ich bin nicht nur Mitglied im TeamGinaLisa, sondern auch im Team Claudia Nauman. Claudia Naumann, die als erste Frau ein EM-Spiel kommentiert hat und damit einen sexistischen Shitstorm ohnegleichen ausgelöst hat.

Erneuerung der Spielregeln

Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir die Spielregeln neu bestimmen und klar und deutlich formulieren. Dazu gehören Respekt und Fair Play und das Ziehen der roten Karte, sobald sich jemand nicht daran hält. Es kann nicht sein, dass der beherzte Griff von Jogi Löw in seinen eigenen Schritt mehr mediale Aufmerksamkeit bekommt, als ein unerlaubter Griff an die Brüste oder in die Hosen von Frauen. Sexismus fängt nicht erst dann an, wenn Frauen von Männern belästigt werden, sondern schon viel früher. Und dazu gehört auch, wenn ein Vergewaltigungsopfer gedisst wird oder eine Frau die ihren Job macht aufgrund ihres Geschlechts bepöbelt wird.

Es ist Zeit, dass wir nicht nur als Frauen, sondern als Gesellschaft wacher werden, mehr zusammenstehen und noch lauter werden um dafür zu sorgen, dass niemand aus unserem Team einfach ungeahndet gefoult werden kann. Und das bedeutet auch, jungen Männern rechtzeitig einen respektvollen Umgang mit Frauen zu vermitteln, welcher Beschimpfungen, Beschmutzungen und Belästigungen kategorisch ausschließt. Es ist an uns, unsere Stimme zu heben und zu verstehen, dass mit jeder Frau, der Unrecht widerfährt auch uns selbst Unrecht widerfährt, wenn es keine rote Karte gibt. Denn das ist Sisterhood.

In diesem Sinne,

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Dieser Beitrag kommt nicht nur von Herzen, sondern ist auch Teil der DMW-Blogparade