Die vierte Welle ist da und wir alle werden von ihr mitgenommen, ob wir wollen oder nicht.
Immer mehr Frauen berichten mir, wie erschöpft und machtlos sie sich aktuell fühlen. Und ich kann es absolut nachvollziehen. Denn wenn wir in einer Situation enden, die wir nicht mitzuverantworten haben, die uns aber maximal in unserem Leben beeinflusst, dass kann uns das das Gefühl von Ohnmacht bescheren. Wenn dazu noch immer wiederkehrende und nicht verarbeitete emotionale Trigger kommen, dann kann unser emotionales System maximal gefordert werden. Ich selber merke, wie die aktuelle Situation Erlebnisse und unverarbeitete Emotionen aus 2020 reaktiviert, die zu denen, die jetzt aktiv sind noch hinzukommen. Es ist manchmal fast wie eine Emotionswelle der anderen Art.
Denn das, was wir in den Wellen 1, 2 und 3 erlebt und noch nicht verarbeitet haben, kann durch Schlagzeilen, Situationen, Diskussionen oder Erlebnisse wieder hochkommen. Auch, wenn es manchmal gar nicht konkret etwas mit dem Moment zu tun hat. Einfach dadurch, dass es Schlüsselworte oder Momente gibt, oder dass die kollektive Energie sich wieder dort befindet, wo sie damals war. Obwohl seinen wir ehrlich, die kollektive Energie ist schon einige Stockwerke tiefer als im März 2020 – was ja auch kein Wunder ist. Kurz vorm ersten Lockdown im März 2020 kam mein Vater ins Krankenhaus. Ich fuhr direkt zu ihm um ihm zur Seite zu stehen. Mein Vater kam auf die Intensivstation und dann kam der Lockdown. Von heute auf morgen konnte ich nicht mehr zu ihm. Keiner konnte ihm mitteilen was los ist und dass ich ihn nicht vergessen habe. Er wurde mehrfach operiert und musste ganz alleine durch all diese Situationen. Ich sah ihn erst Wochen später in der Reha wieder – auch nur nach absoluten Kraftanstrengungen meinerseits.
Als mein Vater mich sah brach er in Tränen aus – er wusste nichts von Covid, niemand hatte es ihm erklärt und konnte nicht nachvollziehen was geschehen war. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als wir uns endlich in die Arme schließen konnte, ich seine Hand hielt und ihm sagte, dass ich ihn nie vergessen habe. Wir verbrachten einige Stunden miteinander und dann musste ich wieder gehen. Doch es gab wenigstens etwas wie Hoffnung für meinen Vater. Und für mich. Auch der nächste Besuch war ein Kampf und es folgten noch einige mehr. Für mich war diese Zeit absolut grenzwertig und traumatisch. Und mit all dem, was anschließend passierte – seinem Tod mitten in der nächsten Welle, hatte ich bis heute keine Zeit mich in Ruhe damit auseinander zu setzen. Wenn jetzt die Schlagzeilen hochpoppen und Menschen berichten, wie sie ihre Angehörigen nicht mehr sehen können, dann öffnet sich in mir diese unverarbeitete noch aktive Emotionsblase. Jedes Mal auf neue. Und zu ihr kommen noch einige andere, die sich in den folgenden Monaten bis heute gebildet haben.
Erinnerungstrigger und Emotionsblasen
Ich teile das mit dir, weil ich mittlerweile weiß, dass es uns allen so geht. Sei es der Stress im Homeoffice mit Kind, sei es die Unsicherheit oder Angst, sei es die Trennung von Menschen die wir lieben, sei es die Isolation, sei es das Chaos in den Schulen. Was auch immer es für die Einzelne ist – wir alle tragen diese Erinnerungstrigger, diese Emotionsblasen mit uns. Denn auch wenn die Pandemie bisher oft physisch betrachtet wurde – wird sind emotionale Wesen und die emotionale Gesundheit ist meinem Gefühl nach in dieser ganzen Diskussion über was machbar ist und was nicht deutlich zu kurz gekommen. Eine Freundin aus Portugal ezählte mir diese Woche, dass sie einen bestimmten Kaffee nicht mehr trinken kann. Denn im Lockdown konnte sie nur zu einem Coffee Shop gehen und die hatten eben diesen bestimmten Kaffee. Wenn sie ihn jetzt trinkt spürt sie, wie ihr ganzer Körper emotional wieder in den Lockdown zurück katapultiert wird. Beim ersten Mal brauchte sie einige Momente, um sich von der Körpersensation zu erholen.
Bei mir ist es kein Kaffee, bei mir sind es eben die Krankenhaus-Schlagzeilen und Bilder aus den Intensivstationen. Und auch noch einiges anderes. Bisher bin ich einigermaßen gut damit zurechtgekommen. Ich habe das Privileg die Tools zu haben und um die Ressourcen zu wissen. Und ich weiß um die Tatsache, dass es so ist und kann somit meine Emotionen einordnen. Doch ich merke nun auch, dass mit dem erneuten Wiederholen eines vermeidbaren Szenarios meine Haut dünner wird. Es ist fast so, als ob eine Nadel in eine Wunde gestochen wird, die gerade begonnen hat zu heilen. Und das in regelmäßigen Abständen.
Wenn Messer in nicht verheilte Wunden stechen
Ich glaube es ist wichtig, dass wir bei dem was jetzt gerade auf uns zurollt – naja eigentlich sind wir ja schon mittendrin – erkennen, dass überall Messerspitzen in noch nicht verheilte Wunden gestochen werden, während gleichzeitig neue Wunden entstehen können. Das kann zuviel werden. Und das ist der Moment, in dem sich diese urtiefe Erschöpfung breit macht. Das ist der Moment in dem die absolute Ohnmacht ihren Platz einnimmt. Ich habe auch keine ultimative Lösung – das direkt vorweg. Denn ich habe in diesem Szenario nicht die Handlungsmacht. Was ich jedoch habe ist die Möglichkeit für mich zu entscheiden. Und auch wenn manche es als Straußentaktik – Kopf in den Sand – bezeichnen würden, so funktioniert es für mich.
Es gibt diesen Satz, welcher ursprünglich von den Anonymen Alkoholikern stammt:
„Gib mir die Gelassenheit die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Gib mir die Kraft die Dinge zu ändern, die ich ändern kann.
Gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Ich habe in den letzten Monaten soviel Energie zu Dingen fließen lassen, die ich am Ende wirklich nicht beeinflussen oder ändern konnte. Ich habe mich aufgeregt, geärgert, war verzweifelt oder sprachlos. Ich habe versucht zu diskutieren, kommunizieren, bewegen, doch all dies hat nichts geändert. Es fühlt sich an wie ein Kampf, den ich verloren habe. Denn offensichtlich kann ich kann die Entscheidungen der Politik nicht beeinflussen. Ich kann die Entscheidungen von Menschen, die ich noch nie getroffen haben nicht beeinflussen. So sehr ich es mir auch wünschen würde. Das was ich tun kann ist mich auf mein Umfeld zu fokussieren. Meine Energie zu nutzen, das, was um mich herum geschieht zu beeinflussen. Mit den Menschen in Kontakt zu sein, die ich kenne. Dinge zu tun, die es mir erlauben aus der gefühlten Ohnmacht herauszukommen. Momente zu schaffen, in denen ich wieder aufladen kann. Schauen, wie ich in meinem Umfeld Unterstützung schaffen kann. Über meine Emotionen reden. Ehrlich meine Erschöpfung und alles andere kommunizieren, anstatt wieder einfach nur die Zähne zusammen zu beißen, ein lächeln aufzusetzen und zu sagen: das schaffen wir jetzt auch noch.
Die DNA des Funktionierens & Durchhaltens
Ich glaube wir dürfen ehrlich sein und sagen: ich weiß nicht, wie ich das noch schaffen soll. Auch wenn wir es alle gleichzeitig sagen. Auch wenn es dadurch keine Lösung gibt. Doch es anzuerkennen ist wichtig. Wenn wir beginnen endlich offen über unsere Emotionen zu sprechen, dann werden wir merken, dass wir eben nicht alleine sind. Das es nicht nur irgendwelchen Menschen in Statistiken auch so geht, sondern unserer Familie, Freunden, Nachbarn und Kollegen. Wir sind alle Menschen. Und es ist so wichtig neben dem Funktionieren und Durchhalten – was wunderbar in unserer deutschen DNA verankert ist – auch das eben nicht mehr funktionieren und nicht mehr durchhalten können klar zu kommunizieren. Unsere kollektive DNA ist nicht zu unterschätzen. Die epigenetische Programmierung von Durchhalten und Funktionieren lässt sich historisch erklären – es war überlebenswichtig bei zwei Weltkriegen. Und nein, ich vergleiche die Pandemie jetzt nicht mit den Weltkriegen. Ich weise nur auf die Ursprünge der „deutschen Disziplin“ hin. Und wie diese als selbstverständlich hingenommen wird. Wir haben das damals durchgestanden, das schaffen wir jetzt auch noch. Denn manchmal habe ich das Gefühl, dass davon ausgegangen wird, dass wir einfach noch eine weitere Welle reiten, ohne auf die Konsequenzen zu schauen.
Wie gesagt – ich habe keine Lösung. Doch ich möchte dich wissen lassen: du bist nicht alleine, wenn du diese Erschöpfung und diese Ohnmacht spürst. Ich möchte, dass du weißt, dass es okay ist die Segel streichen zu wollen. Ich möchte, dass das Konzept der immer wiederkehrenden Trigger dir hilft zu erkennen, was eigentlich passiert.
Und dann gibt es ein paar klitzekleine Tools, die sich in den Gesprächen mit den Frauen aus meiner Community als hilfreich herausgestellt haben. Sie werden die aktuelle Situation nicht verändern, aber sie können dir vielleicht ein wenig durch die kommenden Wochen helfen.
- Den Scheiß verbrennen
Anstatt immer nur auf das zu schauen, was den Tag oder die Woche über gut war – denn vielen von uns fällt das im Hinblick auf die kommenden Woche wahrscheinlich nicht immer leicht, können wir das aufschreiben was scheiße war. Abends gemeinsam nach dem Essen, vorm Wochenende, wann auch immer es passt. Und dann verbrennen wir es. Mit dem Verbrennen geht die Intention einher, dass es unser System verlässt. Das wir ihm keine Macht mehr über uns geben. Gerade als Familie kann dies eine kraftvolle Praxis sein. Wenn du tolerante Nachbarn hast, kannst du mit deinen Kindern die Scheiße auch aus dem Fenster schreien. Hauptsache raus aus unserem Space.
2. In die eigene Präsenz gehen
In all dem Durcheinander und dem Gefühl der Ohnmacht vergesse ich manchmal, dass ich meine Präsenz überall habe, außer in dem Moment, in dem ich bin. Dann setze ich mich hin schließe die Augen und nehme ein paar bewusste Atemzüge. Ich atme meine Präsenz aus der Vergangenheit ins hier und jetzt und meinen Körper. Ich atme meine Präsenz aus der Zukunft ins Hie rund jetzt und meinen Körper. Ich atme meine Präsenz aus dem was parallel passiert ins hier und jetzt und meinen Körper. Denn so oft hängt unser Sein eben noch in den Dingen die vor 5 Minuten oder 5 Tagen passiert sind – Diskussionen, Dinge die wir gelesen haben, Erlebnisse die wir hatten. Ebenso hängt viel von unserem Sein in der Zukunft – in all die Dingen, die gemacht werden müssen, die passieren könnten. Ich merke für mich immer wieder, wenn ich al diese Präsenz – und damit Energie – wieder einsammele, dann fühle ich mich kompletter, klarer und eben: präsenter.
3. Stress-Schütteln
Ich liebe Schütteln. Ich praktiziere es, wenn ich nach Hause komme und das Gefühl habe an mir kleben schon wieder so viele krasse Emotionen oder Gedanken. Dann mache ich meine Playlist an und schüttele es mir alles aus dem System. Von oben nach unten und wieder zurück durch jeden Körperteil. Manchmal sage ich auch laut was ich schüttele. Manchmal schüttelt mein Körper sich von ganz alleine. Alle Tiere schütteln sich nach traumatischen Erlebnissen oder wenn sie Emotionen bewegen – nur wir Menschen halten fest, weil wir die „Kontrolle über usneren Körper“ haben. Doch unser Körper speichert alles, wenn wir es nicht bewegen. Deswegen: schütteln. Geht auch super gemeinsam mit anderen oder per Zoom zur Schüttelparty.
Ich weiß, dass keines dieser Tools die Welt verändern kann, doch sie können uns ein wenig durch den Alltag helfen. Und sie sind einfach und schnell durchführbar. Was mich auch hilft, ist die tägliche Flut an Informationen zu reduzieren und mich nur noch auf das zu konzentrieren, was relevant ist. Das bedeutet nicht, dass ich mich vorm Weltgeschehen verschließe, sondern dass ich nicht alle Details der nächsten Covid-Strategie kennen muss. Wichtig sind Inzidenzen und aktuelle Verhaltensmassnahmen. Denn: wir befinden uns in einer Ausnahmesituation – auch wenn es sich wie ein neues Normal anfühlt.
Und ja, wir werden es schaffen, der Ausnahme ein Ende zu bereiten. Das glaube ich fest. Gemeinsam kommen wir da durch. Doch ich glaube auch, dass wir es diesmal anders machen dürfen und vielleicht sogar müssen. Wir müssen unseren Herzen und unseren Seelen ein wenig mehr Platz einräumen. Denn wenn der Trigger eben nicht nur zweimal, sondern dreimal oder auch schon zum vierten Mal klopft, dann kann uns das Klopfen manchmal einfach k.o. hauen.